Mit ihrem Debüt "Milchzähne" hat die zum Zeitpunkt der Veröffentlichung erst 25-jährige Helene Bukowski den Roman des Frühjahrs geschrieben, ein Geheimtipp, von dem alle Kritiker schwärmten. "Milchzähne" zieht einen hinein in eine mysteriöse, (post-)apokalyptische Welt, die voll ist von Figuren mit fantastischen Namen wie Skalde, Meisis oder Metta und in der eine dichte, bedrohliche Atmosphäre herrscht.
1. Die Autorin
Helene Bukowski wurde 1993 in Berlin geboren und studiert zurzeit Literarisches Schreiben und Lektorieren in Hildesheim. Sie war Mitherausgeberin der „BELLA triste“ und hat neben dieser in weiteren Zeitschriften und Anthologien erste Texte veröffentlicht. Als Co-Autorin des Dokumentarfilms „Zehn Wochen Sommer“ hat sie 2015 den Grimme Sonderpreis Kultur erhalten, 2016 war sie zur Autorenwerkstatt Prosa des Literarischen Colloquiums Berlin eingeladen. Schreiben bedeutet für Bukowski, mit Sprache hantieren, Welten bauen und neues Terrain erkunden. All dies zeigt sich in ihrem 2019 erschienenen, von der Kritik überwiegend wohlwollend aufgenommenen Debütroman „Milchzähne“.
2. Der Klappentext
Skalde lebt mit ihrer Mutter Edith am Rande einer Gegend, die am Ende der Welt zu liegen scheint. Die Menschen hier wollen keine Fremden bei sich, um sicherzugehen, haben sie die letzte Brücke über den Fluss vor Jahren gesprengt. Aber dann schafft es doch jemand: ein junges Mädchen taucht auf und alles gerät aus den Fugen. „Milchzähne“ ist ein Roman über die Sehnsucht nach Zugehörigkeit und die Furcht vor dem Fremden, über Familie, Heimat - und über die Schönheit der menschlichen Fähigkeit, an das Unwahrscheinliche zu glauben.
3. Das Szenario
Bukowskis Ich-Erzählerin Skalde legt ihren Bericht als Memoir an, sie schreibt aus einem „Heute“ über ein „Damals“, basierend auf ihren Notizen aus der Zeit vor ihrer Flucht. Im Prolog könnte es scheinen, als sei Skalde vor der Hitze ans Meer geflüchtet, sehr schnell wird im Roman aber klar, dass Skalde und ihre Mutter Edith von der Dorfgemeinschaft nie richtig akzeptiert wurden und sich spätestens dann im sozialen Abseits wiederfinden, als Skalde Meisis im Wald findet und zu sich ins Haus nimmt. Aufgrund ihrer ungeklärten Herkunft und ihrer leuchtend roten Haare wird Meisis als „Wechselbalg“ bezeichnet, das nicht in die Gemeinschaft passt und schnell für alles Übel schuldig gemacht wird. Damit gelingt es Bukowski, mit ihrer in einer namenlosen Gegend situierten Geschichte die beiden aktuell wichtigsten Herausforderungen unserer Zeit zu thematisieren: Klimawandel und Fremdenhass. Dabei würde die Geschichte auch ohne diese Bezüge funktionieren, fasziniert „Milchzähne“ doch durch das Setting in einer unwirtlichen Welt, in der es irgendwie zu überleben gilt, mystische Elemente wie Perlmuttarmringe, die mitten in der Nacht von abgesägten Baumstämmen verschwinden, und die zwischenmenschlichen Dynamiken der drei Frauen Skalde, Meisis und Edith.
4. Der Clou
Bukowski schafft es, mit wenigen Worten eine den ganzen Roman durchziehende bedrohliche Atmosphäre herzustellen. Stets scheint Gefahr im Verzug. Bereits früh meint Edith: „Wenn sie kommen, stelle ich mich da rein und knall sie ab“. Die Tiere verlieren ihre Farbe und werden weiß. Auf Seite 33 fragt sich Skalde, ob sie nicht hätte „wissen müssen, welchen Verlauf diese Sache nehmen würde“. Und dann ist da noch die Kontrolle, die Edith über alle Hunde der Dorfgemeinschaft hat, als sei sie ein halbnatürliches Wesen und auf eine Art mit ihnen verbunden. Nicht zu vergessen sind auch aparte Namen wie Nuuel, Gösta und Len, Wolf und Levke, Pesolt oder Levaii.
5. Der Satz
Das Verhältnis zwischen Edith und ihrer Tochter Skalde kippt spätestens in dem Moment, in dem Skalde Meisis aus dem Wald mit nach Hause bringt. Bereits davor hat sich die Gegensätzlichkeit von Mutter und Tochter bemerkbar gemacht. Während erstere sich immer mehr zurückzieht und manchmal tagelang in der Badewanne liegt, verlässt letztere immer öfter das Haus und erkundet den Wald. Später umsorgt Skalde Meisis wie eine Mutter, während sie sich ihre eigene Mutter fort wünscht. Dies alles gipfelt in einem an Grausamkeit nicht zu überbietenden Satz: „Es gibt Tage, an denen wünsche ich mir, der Körper meiner Mutter läge unter Unkraut begraben.“
6. Die Bewertung
Bukowskis Debüt überzeugt durch eine Stimmung, in die man gleich hineingesogen wird, eine Heldin, mit der man in den Kampf gegen die Dorfgemeinschaft zieht, und intelligent mit der Geschichte von Skalde, Edith und Meisis verwobenen Alltagsbezügen. Bis zuletzt gibt es in „Milchzähne“ unvorhergesehene Wendungen und Offenbarungen, die den Roman spannend halten, obwohl man nach den ersten beiden Seiten eigentlich dachte zu wissen, wie die Geschichte verlaufen würde. Diese erzählt Bukowski in knappen, kaum ausgeschmückten Sätzen, die einen ihr Buch an einem Tag verschlingen lassen.
7. Die Fakten
„Milchzähne“ von Helene Bukowski ist am 15. März 2019 im Blumenbar Verlag in Berlin erschienen und kostet 20 Euro bei 222 Seiten. Weitere Informationen zum Roman gibt es hier:
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